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BAG Wohnungslosenhilfe: 650.000 Menschen in 2017 ohne Wohnung

Verbessertes Schätzmodell erlaubt genauere Schätzung der Wohnungslosenzahlen

Berlin, 30.07.2019. Die BAG Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat heute ihre aktuelle Schätzung zur Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland vorgelegt. Die Schätzung bezieht sich auf das Jahr 2017: Im Laufe des Jahres  2017 waren demnach ca. 650.000 Menschen (Jahresgesamtzahl) in Deutschland ohne Wohnung.

Die Schätzzahl für 2017 ist damit deutlich niedriger als die im November 2017 veröffentlichte Schätzzahl für das Jahr 2016: Sie weicht in der Gesamtzahl mit einem Minus von 210.000 um 24,5 % von der letzten Schätzung der BAG W nach unten ab.

„Dies entspricht nicht einem tatsächlichen Rückgang der Wohnungslosenzahlen in Deutschland, sondern ist ausschließlich dem deutlich verbesserten neuem Schätzmodell zuzuschreiben“, betonte Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG W.

Im Jahr 2017 betrug demnach die Zahl der wohnungslosen Menschen ohne Einbezug wohnungsloser anerkannter Geflüchteter gut 275.000. Die Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten schätzt die BAG W auf ca. 375.000 Menschen. Seit dem Jahr 2016 schließt die BAG W in ihre Schätzung die Zahl der wohnungslosen anerkannten Geflüchteten ein.

Das revidierte und genauere Modell der Schätzung

Das bisherige Schätzmodell, das seit 1992 zum Einsatz kam, ist aufgrund fehlender neuer empirischer Studien veraltet.

„Daher haben wir seit 2018 an der Revision des Schätzmodells gearbeitet und ein neues Hochrechnungsmodell entwickelt, das auf den empirisch validen Daten der jährlichen Wohnungsnotfallberichterstattung in Nordrhein-Westfalen aufsetzt, und deren Daten auf Deutschland hochrechnet. Alle notwendigen Daten für eine Revision standen vollständig erst ab 2018 zur Verfügung, so dass das neue Modell erst jetzt zum Einsatz kommen kann“, so Rosenke.

Jahresgesamtzahl 2017 und Stichtagszahl 30.06.2017

Ab der Schätzung 2017 kann die BAG W aufgrund des neuen verbesserten Schätzmodells erstmalig neben den geschätzten Jahresgesamtzahlen auch Stichtagszahlen für den 30.6.2017 schätzen.

Eine Stichtagszahl erfasst nur die Zahl wohnungsloser Personen an einem bestimmten Stichtag. Eine Jahresgesamtzahl erfasst die Menschen, die im Laufe eines Jahres wohnungslos geworden sind.

Rosenke: „Mit der Jahresgesamtzahl  werden auch die Menschen erfasst, die vor dem Stichtag wohnungslos waren, es aber zum Stichtag nicht mehr sind und auch diejenigen, die erst nach dem Stichtag wohnungslos werden. Deshalb liegt eine Jahresgesamtzahl immer deutlich höher. Sie misst im Unterschied zu einer Stichtagszahl die tatsächliche Zahl der von Wohnungslosigkeit im Verlauf eines Jahres betroffenen Menschen und bildet somit das gesellschaftliche Ausmaß des Problems besser ab.“

Am Stichtag 30.06.2017 gab es nach Schätzung der BAG W insgesamt ca. 440.000 wohnungslose Menschen in Deutschland, davon ca.153.000 Wohnungslose im kommunalen und frei-gemeinnützigen Hilfesystem und ca. 287.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete in zentralen Gemeinschaftsunterkünften oder in dezentraler Unterbringung.

Kein Grund zur Entwarnung

„Auch wenn die Zahl der Wohnungslosen niedriger ist als bislang von uns geschätzt, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Tatsächlich sind die Wohnungslosenzahlen beispielsweise in Bayern und Nordrhein-Westfalen um ca. 29 %, in NRW, das seit 2016 im Gegensatz zu Bayern teilweise auch wohnungslose anerkannte Geflüchtete erfasst, im ordnungsrechtlichen Sektor sogar um 67 % gestiegen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass in Deutschland insgesamt die Wohnungslosenzahlen um ca. 15 bis 20 % von 2016 nach 2017 angestiegen sind – allerdings auf insgesamt niedrigerem Niveau“, erklärte Rosenke

Struktur der Wohnungslosigkeit

Die folgenden Zahlen und Daten zur Struktur der Wohnungslosigkeit beziehen sich auf die Jahresgesamtzahl und berücksichtigen nicht die wohnungslosen anerkannten Geflüchteten, da für diese Gruppe der Wohnungslosen keine entsprechenden soziodemografischen Daten verfügbar sind:

Ca. 48.000 Menschen leben ohne jede Unterkunft auf der Straße.

Ca. 193.000 (70 %) der wohnungslosen Menschen sind alleinstehend, 82.000 (30 %) leben mit Partnern und/oder Kindern zusammen. Die BAG W schätzt die Zahl der Kinder und minderjährigen Jugendlichen auf 8 % (22.000), die der Erwachsenen auf 92 % (253.000). Der Anteil der erwachsenen Männer liegt bei 73 % (185.000); der Frauenanteil liegt bei 27 % (68.000) . (Alle Angaben jeweils ohne Berücksichtigung der wohnungslosen Flüchtlinge.)

Ca. 15 % der Wohnungslosen (ohne Einbezug der wohnungslosen Flüchtlinge) sind EU-Bürgerinnen und -Bürger; das sind ca. 40.000 Menschen. Viele dieser Menschen leben ohne jede Unterkunft auf der Straße. Vor allem in den Metropolen beträgt ihr Anteil an den Personen ohne jede Unterkunft auf der Straße bis zu ca. 50 %. Die „Straßenobdachlosigkeit“ ist stark durch die EU-Binnenzuwanderung geprägt; dies trifft für die Wohnungslosigkeit insgesamt nicht zu.

Armut und Wohnungsnot

Hauptgründe für die steigende Zahl der Wohnungslosen sind für die BAG W das unzureichende Angebot an bezahlbarem Wohnraum, die Schrumpfung des Sozialwohnungsbestandes und die Verfestigung von Armut.

Es fehlt insbesondere an bezahlbarem Wohnraum für die steigende Zahl von Menschen im Niedrigeinkommensbereich und für die Menschen, die Transferleistungen beziehen. Die Armutsrisikoquote ist bei Mieterinnen und Mietern deutlich gestiegen und betrug im Jahr 2015 knapp 29 %, insb. betroffen sind junge Erwachsene bis 35 Jahren (DIW 2018).

Darüber hinaus fehlen mindestens zwölf Millionen Kleinwohnungen. Der besonders großen Nachfragegruppe der Einpersonenhaushalte (17,2 Millionen) steht im Jahr 2017 nur ein Angebot von 5,2 Millionen Ein- bis Zweizimmerwohnungen gegenüber.

Benötigt werden pro Jahr 80.000 bis 100.000 neue Sozialwohnungen und weitere 100.000 bezahlbare Wohnungen.

Die Bundesregierung hatte sich das Ziel von 375.000 neuen Wohnungen pro Jahr gesetzt. Neu gebaut wurden im Jahr 2018 aber nur 285.000 Wohnungen, darunter lediglich 27.000 Sozialwohnungen. Damit wird nicht einmal der Teil der Wohnungen, der aus der Sozialbindung fällt, ausgeglichen.

Forderungen

Bezahlbarer Wohnraum ist die Grundvoraussetzung zur Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger mit einer eigenen Wohnung – einschließlich der wohnungslosen Menschen.

Die Beteiligung des Bundes an der sozialen Wohnraumförderung muss deshalb dauerhaft erhalten bleiben und deutlich gesteigert werden.

Um bezahlbaren Wohnraum dauerhaft zur Verfügung stellen zu können, ist ein gemeinnütziger Wohnungsbausektor ein wichtiges Instrument. Der Bund muss den Rahmen und die Instrumente für eine „Neue Gemeinnützigkeit“ bei der Wohnraumversorgung schaffen.

Die Verhinderung von Wohnungsverlusten ist die beste Hilfe. Die Entscheidung für ein funktionsfähiges System der Prävention von Wohnungsverlusten ist eine politische Entscheidung jeder einzelnen Kommune und jedes einzelnen Landkreises. Zentrale Fachstellen zur Verhinderung von Wohnungsverlusten fehlen leider noch in vielen Kommunen.

Wohnungslose Menschen sind häufig stigmatisiert und ausgegrenzt, negative SCHUFA-Einträge machen es für wohnungslose Menschen nahezu unmöglich, wieder die Chance auf eine eigene Wohnung zu erhalten.

Werena Rosenke: „Bezahlbarer Wohnraum ist zwar die Voraussetzung zur Versorgung aller Bürgerinnen und Bürger mit einer eigenen Wohnung, aber nicht ausreichend, um tatsächlich Menschen in einer Wohnungsnotfallsituation den Zugang zu Wohnraum zu ermöglichen. Neben dem Bau bzw. der Sicherung bezahlbaren Wohnraums muss Wohnraum ausdrücklich auch bereits wohnungslosen Menschen zugänglich werden.

Wir fordern deshalb Maßnahmen, die sicherstellen, dass wohnungslose Haushalte mit eigenen Wohnungen versorgt werden können. Maßnahmen können sein: Bindungen für vordringlich Wohnungssuchende, Quotierung bei der Vergabe von Belegungsrechten, d.h. ein bestimmter Anteil sozial gebundener Wohnungen sollte explizit für wohnungslose Haushalte zur Verfügung stehen.

Kommunen sollten Anreize schaffen, um Wohnungen für Wohnungslose bei den Unternehmen der Wohnungswirtschaft, aber auch bei privaten Vermietern zu akquirieren.

Ohne Wohnungen für Wohnungslose und ohne ein systematisches Präventionssystem in jeder Kommune, werden sich Wohnungsnot und Wohnungslosigkeit nicht bekämpfen lassen.“